Brave old world

TheaterHeute, Mai, 2008

Von Barbara Burckhardt und Eva Behrendt

Natürlich darf manipuliert werden! Ein Gesprach mit Signa Soerensen und Arthur Koestler
über den Zusammenhang von Nachtclubs und Theaterinstallationen, nicht vorhandene Masterplane, Komplexitat und den Stil des «Bleak»

Signa Soerensen und Arthur Koestler, Sie sind beim diesjahrigen Theatertreffen sicher mit dem ungewöhnlichsten Projekt vertreten. «Die Erscheinungen der Martha Rubin» sind eine Performance-Installation, in der Sie, ursprünglich für die Kolner Halle Kalk, eine eigene
Welt erschaffen haben: Rubytown, ein Dorf im Niemandsland, bevölkert von dreißig Dorfbewohnern und bewacht von Soldaten.

Die Performance in Berlin in einer alten Lokhalle wird 192 Stunden dauern, in der die Schauspieler, ganz überwiegend Laien, die Zuschauer in ihre Welt ziehen. Als teilnehmender Beobachter können sie mit den Rubytownern reden, an ihrem Leben partizipieren: eine alptraumhafte Hyperrealität, Einfühlungstheater ohne vierte Wand, ein Second Life live.

Wie haben Sie diese Theaterform entwickelt?
SIGNA SOERENSEN: lch habe in Kopenhagen Kunstgeschichte, Film und Medienwissenschaften studiert und für meinen Bachelor eine Installation in Form einer Ausstellung gemacht: «Der Mythos der gefallenen Frau». Um dieses Projekt finanzieren zu können, habe ich in Nachtclubs gearbeitet, als Champagnergirl und Stripperin. lch befand mich also selbst in dieser ambivalenten Situation zwischen Faszination und Verachtung, in dieser merkwürdig künstlichen Intimität, in der man so tut, als sei man völlig echt, sich aber in einer total definierten Rolle befindet, die bestimmten Regeln gehorcht. Das hat mich interessiert: die Konstruktion von Realität. Zugleich war ich sehr unzufrieden mit meiner Installation: Man baut sie auf, und dann geht man und überlässt sie sich selber. Es gibt keinen Dialog. Da beschloss ich, künftig selbst Teil meiner Installationen zu sein. Ich habe dabei gar nicht an Theater gedacht, aber ich kannte natürlich Performances aus der Bildenden Kunst. Ein
halbes Jahr spater habe ich meine erste Arbeit gemacht, in die Publikum integriert wurde: «Twin Life». lch spielte ein krankes Mädchen und lag in einem Appartment in einem Bett mit dem Blick zur Straße und die Leute besuchten mich, bevor ich starb. Das war 2001. Seit 2004 arbeite ich mit Arthur zusammen, unter dem Label SIGNA.

TH: Arthur Koestler kommt eigentlich aus Osterreich ...
ARTHUR KOESTLER: Dort habe ich eine Art Musik Performance-Kunst gemacht, bevor ich nach Kopenhagen an die Kunsthochschule ging. Wir trafen uns, als ich bei einer von Signas Arbeiten mitgespielt habe.

TH: Für «Die Erscheinungen der Martha Rubin» hat der Raum eine groge Bedeutung. In Berlin haben die Festspiele dafür einen alten Lokschuppen zwischen Tempelhof und SchOneberg aufgetan. Welche Rolle spielen die Räume, in die Sie eingeladen werden, für Ihre Arbeit?
SOERENSEN: Eine entscheidende! Am liebsten konzipieren wir von den Raumen ausgehend.
KOESTLER: Wenn uns jemand fragt, ob wir etwas machen wollen, fragen wir, wo wir etwas machen können. Dann erst entscheiden wir Größe, Thema, Budget. Wir haben eine Menge Ideen in der Schublade, die wir rausholen, wenn wir den passenden Ort sehen.
SOERENSEN: Dann arbeiten wir ganz detailliert am Bühnenbild. Bis zum letzten Feuerzeug und in die hinterste Schublade muss der Stil stimmen. Wir sammeln schon lange im Voraus viele kleine Dinge, Papiertüten aus Bilbao, alles mögliche.

TH: Dabei entsteht eine starke Atmosphäre, merkwürdig zeitlos, ein bisschen ostig, mit Patina.
SOERENSEN: Ich wollte von Anfang an, dass das Publikum in meinen Arbeiten eine vollkommen andere Welt betritt, außerhalb von konkreter Zeit und geografischem Ort. Und diese Illusion muss so komplett wie möglich sein.
KOESTLER: Manches erinnert an Großmutter, anderes an Ostblock, ist aber keiner Epoche konkret zuzuordnen. Es bleibt ein bisschen verschwommen, wie die Erinnerung eben. Wir nennen diesen Stil «Bleak», obwohl viele Elemente der eigentlichen Bedeutung des Wortes nicht wirklich entsprechen. Wir haben eine Faustregel: Nichts, was nach 1984 hergestellt wurde, kommt in unsere Räume. CD geht nicht, VHS schon. Aber letztlich entscheidet das unser Gefühl.

TH «Bleak», heißt so viel wie düster, ausgeblichen. Wie wurde unter dieser Prämisse Rubytown zusammengetragen?
KOESTLER: Von uns selber. Wir hatten keine Techniker, keine Bühnenbildner. Für Rubytown hat die Vorbereitung ein gutes halbes Jahr gedauert. Wir sind jeden Tag in Dorfer rund um Köln gefahren, wo der wachsende Braunkohletagebau die Einwohner aus ihrer Heimat vertreibt. Verlassene Dorfer wie Otzenrath und Spenrath. Da haben wir in Häusern das Linoleum von den Boden abgezogen, die Tapeten von den Wanden gekratzt. Auch die elektrischen Geräte sind alt und entsprechend unberechenbar. Wir haben ja keine versteckte Technik. Alles hat eine unmittelbare, sichtbare Quelle.

TH: Als im Oktober in Köln ein Heizlüfter ausfiel, geriet die Schauspielerin in ihrem Wohnwagen in echte Panik. Denn auch die Kalte war real.
SOERENSEN: Aus dem Geräteausfall kann ganz viel entstehen. Ein Plattenspieler geht kaputt, und schon muss man die Platten beim Nachbarn auflegen: So geht die Geschichte weiter.

TH: Wenn man als Zuschauer durch Rubytown geht und mit den Bewohnern spricht, fragt man sich dauernd: Gibt es hier einen Masterplan? Hängt wirklich alles mit allem zusammen? Wenn ich 200 Stunden bliebe, konnte ich dann die ganze Geschichte erfahren?
KOESTLER:Nein. Die ganze Geschichte kennen wir selbst nicht. Aber wir wissen natürlich mehr als Sie. Und wir beeinflussen die Dinge auch. Wir nehmen uns die Rollen, die einen Einfluss haben auf den Verlauf: z.B. Signa als das Orakel Martha Rubin, ich als Bürgermeister oder unser Dritter im Bunde, Thomas Bo Nilsson, als Captain der Soldaten. Wir können bestimmte Richtungen einschlagen, werden aber selber immer wieder davon überrascht, wie sich die Faden verweben und welches Muster entsteht, immer ein anderes. Sehr komplex, aber geschlossen. Das wirkt dann wirklich wie ein Masterplan.
SOERENSEN: Es ist ja auch nicht so, dass es gar keinen Plan gibt. Wir schreiben vorher eine sehr dichte Rahmengeschichte und geben den Schauspielern präzise Figurencharakterisierungen, die wir zum Teil mit ihnen selber weiterentwickeln. In Rubytown z.B. sind ja alle verwandt, sie haben eine gemeinsame Biografie. Die muss dann auch jeder von jedem wissen. Das war eine sehr komplizierte Arbeit. Am Ende sollte ja jeder eine andere Version derselben Geschichte erzählen.

TH: Verändert sich die Dynamik und die Komplexität der Performance nicht stark mit ihrer
Dauer? In Koln war das erste Rubytown-Wochenende 36 Stunden lang, in Berlin werden es 192 Stunden sein ...
KOESTLER: Es hat Vorteile, wenn es länger dauert. Es wird harter. Man muss die Energien anders einteilen. Und man kommt noch tiefer rein in die Figur.

TH: Aus der keiner je heraustritt?
SOERENSEN: Nur in Krisensituationen. Wenn ein Schauspieler zusammenbricht oder wegen Schlafmangels durchdreht oder auch einer aus dem Publikum. Wenn zum Beispiel zu viel getrunken wird.
KOESTLER: Gerade auch, wenn wir selber involviert sind, werden Schauspieler manchmal unsicher, ob ich sie als Regisseur oder als Bürgermeister von Rubytown zur Rechenschaft ziehe. Es ist auch schon passiert, dass Leute vollkommen vergessen, dass sie in einer fiktiven Situation sind. In Meiningen, unserer ersten Deutschlandstation bei Res Bossharts «Junge Hunde»-Festival 2004, wollte in unserer Show «Secret Girl», ein Zuschauer die Polizei holen, weil er uns für Kriminelle und Sadisten hielt, die das Festival als Deckmantel ihrer Machenschaften nützten. Da spielte Signa eine ertrunkene Hure, die ein Kollege und ich in einem ehemaligen Mannerknast gefangen hielten und an der wir Experimente durchführten. Das war eine ganz brutale Show in unglaublich bedrückender Atmosphäre.

TH: Viele Zuschauer finden genau diese Erfahrung im Zwischenreich von Fiktion und Realitat
und ihr eigenes Verhältnis dazu faszinierend. Andere fühlen sich manipuliert. Was erwidern Sie auf diesen Vorwurf?
SOERENSEN: Natürlich manipulieren wir! Das ist unser Thema!
KOESTLER: Und wir sind ja kein Staat. Das ist nur eine Inszenierung. Unser Ziel ist es zum Beispiel, den Zuschauer dazu zu verführen, Sympathie für jemanden zu empfinden, mit dem er aus moralischen Gründen eigentlich keine Sympathie haben dürfte. Dass er den Blickwinkel wechselt, weil er in der Geschichte mittendrin steckt.
SOERENSEN: Nur dadurch kann er Erfahrungen machen, die ihn selbst überraschen.

TH: In den «Erscheinungen der Martha Rubin» haben nicht nur Sie und Ihr engeres Team, sondern auch eine ganze Menge Kölner Darsteller mitgespielt. Für die Berliner Variante casten Sie gerade einige Mitspieler neu. Nach welchen Gesichtspunkten?
SOERENSEN: Grundsätzlich müssen unsere Mitspieler mit dem Konzept einverstanden und bereit sein, sich wirklich auf das Spiel einzulassen, in ihrer Rolle zu bleiben. Wir fordern keine Schauspielerfahrung. Manchmal sind echte Schauspieler sogar schwierig, weil sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen und das Gefühl brauchen, das etwas passiert. Das kann ein bisschen künstlich wirken.
KOESTLER: Es hat sich als günstig erwiesen, wenn die Leute schon etwas von uns gesehen haben und wissen, wie das funktioniert, wie diese Welten sich anfühlen. Außerdem müssen sie Zeit haben.

TH: Suchen Sie Besetzungen für bestimmte Rollen?
SOERENSEN: Nein, denn am Anfang gibt es nur die Grundidee, das Dorf, dessen Bewohner alle Nachfahren der Martha Rubin sind. Dann schauen wir, wer uns interessiert, wo sein Platz im Dorf sein konnte, wer seine Geschwister sind usw. Die Rollen haben wir individuell geschrieben, oft auch beeinflusst von dem, was die Leute uns in den Interviews von sich erzählt haben. Zuerst schreibe ich nur ein paar Zeilen pro Rolle, dann fangen wir
an zu improvisieren. Dabei werden die fiktiven Biografien und Beziehungen zu anderen Dorfbewohnern immer konkreter und detaillierter.

TH: Also Proben wie im Theater?
KOESTLER: Bei Rubytown war das wichtig. Die Leute mussten sich in ihren Häusern und Jobs und vor allem untereinander orientieren lernen; es gab viele Fragen. Aber beim «Dorine Chaikin Institute», der Psychiatrie-Installation im Berliner Ballhaus Ost, haben wir zum Beispiel gar nicht geprobt.
SOERENSEN :Wir verbringen einfach wahnsinnig viel Zeit mit Reden, stundenlang. Vierzig verschiedene Biografien prägt man sich nur durch Wiederholung ein.

TH: Sprechen viele Zuschauer den Unterschied zwischen real und gefaket an, und sind Sie und Ihre Darsteller darauf vorbereitet? Oder trauen sich die Zuschauer gar nicht zu thematisieren, dass sie im Theater sind, weil sie diese fremde Welt nicht zerstören möchten?
KOESTLER: Es gibt immer wieder Zuschauer, die versuchen, das Ganze zu entlarven und irgendwelche Löcher im Konzept zu finden. Diese Löcher gibt es natürlich haufenweise, nichts ist hundertprozentig wasserdicht. Es sind aber doch nicht sehr viele Leute, denn letztlich zerstören sie sich damit natürlich selbst den Abend. Aber wir haben bestimmte Strategien, mit den «Enthüllern» umzugehen.
SOERENSEN: Regel Nr.1: Man bleibt immer, immer, immer in der Rolle. Die meisten Fragen, die sich auf die Theatersituation beziehen, sind dann einfach absurd.

TH: In der Psychiatrie war es umgekehrt. Da alle Zuschauer schizophrene Patienten waren, passte die Behauptung «Das ist doch alles nur show» perfekt ins Krankheitsbild. - Wenn Sie jetzt fast 200 Stunden am Stück spielen wollen, bereiten Sie dann Situationen oder Szenen vor für den Fall, dass Leerlauf entsteht?
KOESTLER: Nein. Es geht ja nicht darum, dass sich irre viel ereignet. Es geht um das Leben. Eigentlich ist es sogar eher ungünstig, wenn das Publikum in Trauben einer Aktion zuschaut. Die kleinen Begegnungen und Entdeckungen sind uns wichtiger.

TH: Sie haben gesagt, für Ihr Theater brauchen die Mitspieler Zeit. Das gilt aber auch für die Zuschauer. Denn die Installation en von Signa entfalten eine ganz andere Wirkung, wenn man sich in ihnen sechs Stunden bewegt und nicht nur 90 Minuten. Außerdem sollen sich im Fall von Rubytown immer nur 40-60 Besucher in der Installation aufhalten. Ist Ihr Theater eine luxuriöse Angelegenheit?
KOESTLER: In Köln wurden nur 900 Karten für die «Erscheinungen» verkauft, und in Berlin werden es wahrscheinlich nicht viel mehr werden. Das ist wenig, wenn man bedenkt, dass durch den enormen Aufwand, Rubytown nach Berlin zu verfrachten, dieses Projekt genauso viel kostet wie eine große Opernproduktion. Aber es funktioniert nun mal nicht mit mehr Publikum. Eine lange Besuchsdauer ist natürlich wünschenswert. Wem es gefällt, der bleibt schon von allein länger.
SOERENSEN: Es kommen sehr unterschiedliche Leute zu uns. Junge Leute mit Kindern, aber auch viele Rentner. Leute verschiedener Herkunft und aus allen möglichen sozialen Schichten. Viele unserer Zuschauer sind gar kein Theaterpublikum.
KOESTLER: Das hängt auch damit zusammen, dass wir kaum mit Schauspielern arbeiten, sondern mit Leuten aus sehr unterschiedlichen Szenen und Milieus. So entwickelt sich die Mund-zu-Mund-Propaganda in ganz verschiedene Richtungen. Natürlich hatten wir auch richtige Stammkunden, die immer wieder kamen ...

TH: Hat sich mal jemand in Ihre Darsteller verliebt?
SOERENSEN: Ja, das ist oft passiert ...

TH: Gibt es Grenzen, was das Verhalten in Rubytown betrifft? Gewalt, Sex, Suff? Treffen Sie Notfallregelungen?
KOESTLER: Unsere Schauspieler dürfen trinken, aber nicht betrunken sein.
SOERENSEN: Cannabis oder andere Drogen sind auch nicht erlaubt. Sie dürfen keine Zuschauer schlagen. Untereinander geht das schon, wenn es verabredet ist. Theaterohrfeigen sind ganz ausgeschlossen. Aber das war's auch schon mit den Regeln. Sex kommt vor. Allerdings bitten wir die Schauspieler, die es ein bisschen darauf anlegen, sich zurückzuhalten.

TH: In der Psychiatrie-Installation entsprach die Erfahrung, die man als Zuschauer machte, der Institution, in die man sich begeben hatte: Man wurde betreut, manchmal fast bis zur Entmündigung. Bei Rubytown ist das Konzept diffuser und besteht aus Versatzstücken, die meistens duster und unheimlich sind. Die Nord-Südstaaten-Thematik erinnert an Korea, die Raumsituation an Lars von Triers «Dogville», die unsterbliche Martha scheint einem Balkanmythos entsprungen. Wie entwickelt sich so etwas? Steht eine politische
Absicht dahinter?
KOESTLER: Nein. Aber wir lassen uns von vielen Quellen inspirieren. Die politischen Fragen tauchen meist von alleine auf. Dann versuchen wir, das Konzept so hinzubiegen, dass es so komplex wie möglich wird. Grundsätzlich würde ich sagen: Wir werfen Themen auf, lösen aber keine Probleme.
SOERENSEN: Es ist für uns wichtig, einen Erfahrungsraum zu gestalten, nicht mit einer fertigen Message zu kommen. Die Leute sollen sich selbst orientieren, eigene Erfahrungen machen. Die Wirklichkeit ist ja auch sehr komplex, und jeder hat seine Gründe, auch wenn er etwas ganz Schlechtes tut. Wir möchten nichts vereinfachen.

 
   
 
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