Hier kann jeder den Helden spielen

Die Welt, 26.10.07

Von Stefan Keim

Neue Theater-Formen: Das österreichisch-dänische Duo Signa baut in Köln die Bühnenstadt „Ruby Town“. Demnächst errichten sie ein Krankenhaus.

Die junge Frau in Uniform nimmt meinen Fingerabdruck. Sonst become ich keinen Pass. Und ohne einen Pass hat niemand Zutritt zu Ruby Town, einer Siedlung aus wackeligen Hütten und Wohnwagen, die in der Schauspielhalle Köln-Kalk aufgebaut ist. Hier zeigt das dänisch-österreichische Künstlerduo Signa eine eigenwillige Performance, an diesem Wochenende 84 Stunden lang: „Die Erscheinungen der Martha Rubin“.

In einem offenen Schrein über dem Dorf liegt Martha Rubin, eine weit über 100 Jahre alte Seherin. Sie ist nicht gealtert, immer noch eine junge Frau, und sie schläft. Nur manchmal öffnet sie die Augen. Die Zuschauer können sich ihr nähern, müssen sich aber vorher die Hände waschen und Kreide ins Gesicht schmieren. Alle Bewohner von Ruby Town sind mit Martha verwandt, offene, fröhliche Menschen, die keine Kinder haben. Eine rätselhafte Strahlung tötet jede Fruchtbarkeit, nicht einmal Pflanzen wachsen hier. Die Besucher gehen durch den Ort, reden mit den Bewohnern, trinken und tanzen mit ihnen. Es gibt ein Restaurant, einen Schönheitssalon, eine Peepshow. Und manchmal wird man von Soldaten abgeführt, die einen verhören. Denn die rätselhaften Nordstaaten kontrollieren genau, was in Ruby Town vor sich geht.

Wie lange er sich an diesem seltsamen Ort aufhält, ist jedem selbst überlassen. Ich wollte nur mal eine Stunde schauen, was da passiert und blieb bis in die Nacht hinein. Denn bald hat man sich eingelebt, kennt Leute, wird gegrüßt, hat vielleicht einen Massagetermin. Und vergisst, dass alles Theater ist.

Plötzlich gellen Schreie aus der Baracke der Soldaten. Ich gehe hinein, sehe, wie zwei Soldaten eine Frau fest halten und ihr eine Spritze in den Körper rammen wollen. Sie brüllt um Hilfe, schaut mich mit aufgerissenen Augen an. Ich denke, dass Schauspieler mir nichts tun dürfen und spiele den Helden. Doch die Soldaten lassen sich nicht einfach weg schieben. Einer hält seine blutende Hand hoch und ruft, die Frau sei hysterisch und habe ihn gebissen. Wer ist Täter, wer Opfer? Plötzlich stehe ich völlig hilflos da.

“Die Erscheinungen der Martha Rubin“ sind nicht einfach Mitmachtheater, nicht bloß ein Computerspiel mit echten Körpern. Die Performances von Signa sind verstörende Erlebnisse, weiter kann Realismus im Theater nicht gehen. Dabei bleibt alles Spiel, die Grundsituation Science-Fiction, viele Elemente grotesk. Aber man glaubt sie, weil die 40 Schauspieler in ihren Rollen leben und selbst im Schlaf nicht aussteigen.

„Wir fangen immer mit dem Ort an“, erzählt der Österreicher Arthur Koestler. Er ist Signa, zusammen mit der Dänin Signa Sörensen. Die beiden sahen die Halle Kalk und hatten die Idee, dort ein Dorf hineinzubauen. Und dann ging die Fantasie los. Als das Casting der Schauspieler begann, stand bloß ein Grundgerüst der Geschichte. „Wir wussten ja nicht, welche Typen wir kriegen“, sagt Koestler. Die Hälfte der Mitwirkende sind Laien. „Mit Bühnenschauspielern haben wir schlechtere Erfahrungen gemacht. Bei uns darf sich niemand in den Vordergrund spielen.“ Viel wichtiger ist es, dass die Spieler bereit sind, „sich hundertprozentig reinzuwerfen“. Mit ihnen entwickelten Sörensen und Koestler die Figuren, es gab Probeshow in Kopenhagen, Ruby Town wuchs immer mehr.

Es gab keinen Technikerstab, nicht einmal Elektriker. Die Spieler bauten sich ihre Häuser selbst, nähten und tapezierten, verlegten Kabel. So entstand das Vertrauen, tagelang gemeinsam eine Welt zu erschaffen. Was passiert, können Sörensen und Koestler nicht genau überblicken. Sie spielt Martha und hat die meiste Zeit die Augen zu, er ist der Dorfvorsteher, sieht aber auch nur einen Teil der Aktionen. „Eine Dramaturgie gibt es nicht“, erläutert Arthur Koestler. „Alle Handlungen sind logische Konsequenzen dessen, was vorher passiert ist. Wir drehen auch nie das Rad zurück und spielen bestimmte Szenen noch einmal.“ Und wo ist die Grenze? Was wäre passiert, wenn ich die Soldaten in der Baracke massiver angegriffen hätte?„Dann gibt es ein Codewort, das allen sagt, jetzt gehen wir zu weit. Dann lösen wir die Szene auf, bleiben aber natürlich in den Rollen.“

Kölns neue Intendantin Karin Beier hat angekündigt, neue Theaterformen auszuprobieren. Mit dem Engagement von Signa landet sie gleich einen Volltreffer. Beide Performancekünstler haben keinen Theaterhintergrund. Signa Sörensen hatte die Idee zu dieser besonderen Form, als sie als Stripteasetänzerin in Nachtklubs arbeitete. Es ist das gleiche Prinzip: Sie ist nah dran an den Zuschauern und spielt ihnen etwas vor.

Zwei bis drei Shows machen Signa im Jahr. In einem ehemaligen Industriegebäude im schwedischen Malmö haben sie für 250 Stunden ein Hotel eröffnet und bisher vor allem in Skandinavien, Spanien und Argentinien gearbeitet.

Nun ist Deutschland auf sie aufmerksam geworden. Nach dem Kölner Projekt gibt es eine kleinere Performance in Berlin während des Festivals „Nordlichter“. Da wird das Ballhaus Ost zum Krankenhaus, die Besucher sind Patienten, die Ärzte und Schwestern Schauspieler. „Die Kranken sind dem Personal ausgeliefert“, sagt Arthur Koestler. „Es geht um die Strukturen von Macht.“ Das erleben die Zuschauer in Köln, wenn sie von den Soldaten abgeführt werden. Und selbst wenn man im Hinterkopf noch weiß, dass alles nur gespielt ist, steigt der Pulsschlag. Schauspieler fassen dich an, du musst reagieren. Gegen diese neue Theaterform sind Computerspiele schlappes Zeug von gestern.

 
   
 
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